HERR, was ist der Mensch, dass du dich seiner annimmst, und des Menschen Kind, dass du ihn so beachtest? Ist doch der Mensch gleich wie nichts; seine Zeit fährt dahin wie ein Schatten.
Psalm 144,3
In der Antike gab es in Delphi ein weltbekanntes Orakel. Dorthin kamen Menschen, um etwas über ihre Zukunft zu erfahren. Die Orakelsprüche entstanden unter eher dubiosen Umständen: Eine Priesterin (Pythia), berauscht von Gasen, die aus der Erde aufstiegen, brabbelte unverständliches Zeug. Ihre »Botschaften« wurden vom Priester anschließend so offen formuliert, dass sie auf alles passten, was auch geschehen würde. Neben aller Scharlatanerie und Geschäftemacherei mit der Sorge der Menschen fand sich an einer Säule des Tempels aber ein Spruch, der Beachtung verdient: Gnothi seauton - Erkenne dich selbst. Die Autorenschaft ist nicht gesichert, aber die Botschaft ist zeitlos: Der Ratsuchende sollte erkennen, wer er selbst ist. Er sollte auf seine Endlichkeit, seine Verletzlichkeit und Unvollkommenheit hingewiesen werden. Der Spruch macht deutlich, dass wir Menschen gut daran tun, uns nicht zu überschätzen.
Tatsächlich neigt die Menschheit eher zur Selbstüberschätzung. Dabei werden die Menschheits-Probleme in der Regel nicht gelöst, sondern liegen gelassen: Hunger in der Welt, Pandemien, Klima, Kriege usw. Auch im persönlichen Bereich kriegen wir unsere Probleme selten wirklich in den Griff. Und spätestens vor dem Tod kapituliert jeder. Daher ist eine nüchterne Bestandsaufnahme hilfreich: Was ist schon der Mensch! Verdient er angesichts seiner Fehlerhaftigkeit überhaupt Beachtung? Diese Frage wirft auch die Bibel auf.
Allerdings enthält die Bibel hierzu - im Gegensatz zum Gebrabbel der Pythia - eine ganz klare, freudige Botschaft: Kein Mensch ist Gott gleichgültig, ganz im Gegenteil. Er möchte uns statt unserer begrenzten Endlichkeit eine herrliche Ewigkeit schenken.
Markus Majonica