Der Dichter Gottfried Benn, heute vor 45 Jahren gestorben, war von Beruf Arzt, ein stiller bescheidener, unauffälliger Mann. Als Sohn eines Pastors aus dem östlichen Brandenburg war er 1912 mit einem Schlag berühmt geworden durch ein kleines schmales Gedichtbändchen mit dem Namen »Morgue«, Leichenhalle. Als expressionistischer Lyriker gehörte er bald zu den anerkannten literarischen Größen Deutschlands. Der Verlust des Lebenssinns in der modernen Gesellschaft ist ein Thema, das einen Teil seiner Lyrik bestimmt. In dem Gedicht »Verlorenes Ich« setzt er sich z. B. mit unserer verwissenschaftlichten Welt und ihren Folgen für den Menschen auseinander.
Es ist eine Welt ohne Orientierung, eine Welt ohne Gott. In dieser Welt ist der Einzelne im vollsten Sinne des Wortes verloren. »Die Welt ist zerdacht« heißt es in diesem Gedicht. Der moderne Mensch hat die Welt zwar erforscht, doch ist sie ihm darüber sinnlos geworden. Der nur noch rational bestimmte Mensch kann Gott und damit den festen Bezugspunkt für unser Leben eben nicht erkennen, denn Gott entzieht sich diesem vereinnehmenden Erkenntnisstreben, das aus der sündigen Natur des Menschen erwächst. »Fleisch und Blut können das Reich Gottes nicht ererben« (1. Korinther 15,25). Benn hatte deutlich erkannt, welchen Preis der Rationalismus, die reine Diesseitigkeit des Denkens, forderte. Er hatte die Ehrlichkeit und den Mut, dies in vielen seiner Gedichte auszusprechen. Für den Sprung in den Glauben fehlte im leider die Kraft. So trifft der Gedichttitel »Verlorenes Ich« auch auf ihn zu. Karl-Otto Herhaus