Wir sind gerade auf dem Friedhof-Parkplatz ausgestiegen, da sehe ich ein edles Mercedes Sportcoupé in die gegenüberliegende Parkreihe einbiegen. Es sind gerade noch zwei Plätze frei. Der Mercedes parkt mitten auf der weißen Linie zwischen den beiden Parkplätzen. »Typisch Mercedesfahrer«, rege ich mich innerlich auf, »ein dickes Auto fahren und dann nicht richtig einparken können, so dass er zwei Parkplätze blockiert!« Ich bin gespannt, was für ein hochnäsiger Typ aussteigen wird. Doch die Fahrertür bleibt geschlossen. Wartet der etwa auch noch, dass ihm einer die Tür öffnet und einen roten Teppich auslegt? Aber dann passiert etwas, womit ich überhaupt nicht gerechnet habe: Die Beifahrertür öffnet sich, eine Frau steigt aus und geht zum Kofferraum des Wagens, öffnet diesen und entfaltet nicht den erwarteten roten Teppich, sondern - einen Rollstuhl. Sie fährt diesen bis an die Fahrertür und hilft mit geübten Griffen einem gebrechlich wirkenden Mann in den Rollstuhl und schiebt diesen in Richtung Friedhofskapelle.
Hatte ich vor wenigen Minuten diesen Mann (insgeheim) noch wegen seines Wagens beneidet und dann wegen seiner vermeintlichen Rücksichtslosigkeit gehasst, so schäme ich mich nun abgrundtief wegen meines vorschnellen Urteils über einen kranken Mann, der nicht ohne fremde Hilfe aus seinem Wagen steigen kann.
Seit diesem Erlebnis habe ich mir vorgenommen, in meinem Urteil über andere Menschen vorsichtiger zu sein, denn Gott warnt uns in der Bibel ausdrücklich vor solchen Gedanken: »Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn mit welchem Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden« (Matthäus 7,1-2).
Günter Seibert