Eine Patientin in der Klinik darf zum ersten Mal Besuch bekommen. Da denkt doch jeder, dass sie sehr froh ist. Sie aber sagt auf Befragen, dass sie sich vor dem Besuch ihrer Familie fürchtet. Und warum das? »Ich fürchte, sie sagen mir, dass sie ohne mich ganz gut zurechtgekommen sind.«
Sie weiß offenbar ganz genau, dass alles, worauf sie ihr Selbstwertgefühl baute, dann zusammenbrechen würde. Solange die Kinder jung waren, konnte sie die Kleinen nach Herzenslust bemuttern. Doch als sie älter wurden, hatte sie es schon manchmal schwer gehabt, ihnen ihre Überfürsorge »schmackhaft« zu machen. Ihre Kinder wehrten sich immer deutlicher und schließlich so sehr dagegen, dass sie wegen vieler körperlicher und psychischer Krankheitssymptome in die Klinik eingewiesen werden musste.
Sicher hat unsere liebe Patientin schon oft das Wort »loslassen« gehört, es aber immer beiseitegeschoben, weil sie zu deutlich spürte, dass sie damit das preisgeben würde, worauf sie ihre Existenzberechtigung baute.
Was sagt nun unser Tagesvers dazu? Da spricht der große Gott zu denen, die an ihn glauben, dass sie sich nicht zu fürchten brauchen, weil Gott sie erlöst hat. Er hat sie vor allem von der ewigen Verdammnis erlöst, darüber hinaus aber auch von all den anderen Zwängen, in denen wir gefangen sein können. Einer besteht darin, dass wir nur froh werden, wenn wir andere von uns abhängig wissen. Wer so denkt, kann oft Tag und Nacht und bis zum Zusammenbruch auf den Beinen sein, um diese Abhängigkeit aufrecht zu halten.
Hier steht nun, dass wir Gott gehören. Wenn wir ihm in Dankbarkeit dienen, wirkt sich das auch zum Wohl unserer Lieben aus; aber wir sind nicht mehr gezwungen, sie in Abhängigkeit zu halten.
Hermann Grabe