Nesthäkchen haben es in mancher Hinsicht gut. Sie haben die Stube voller Spielzeug von ihren älteren Geschwistern, und oft geht es den Eltern inzwischen auch wirtschaftlich etwas besser, so dass mancher Wunsch erfüllt werden kann, der früher utopisch erschien. Und was die Erziehung angeht, sind die Eltern vergleichsweise abgekämpft und ihre Nerven gleichen ausgeleierten Gummibändern, die man leicht und nach Belieben ausdehnen kann. Was die »Großen« niemals durften, machen die lieben Kleinen ganz ungefragt und folgenlos.
So betrachtete in einer Familie der inzwischen erwachsene älteste Sohn seine kleine Schwester seit geraumer Zeit, bis er seine Mutter fragte, ob sie nicht sehe, dass ihre Jüngste auf einem ganz gefährlichen Weg sei. »Oder willst du, dass sie in die Hölle kommt?«, fragte er ganz unverblümt.
Zum Glück fing die Mutter nicht an, sich zu rechtfertigen oder gar dem Sohn seine Urteilsfähigkeit abzusprechen, sondern zog zusammen mit dem Vater die Zügel wieder strammer. Zum Glück war es noch nicht zu spät; denn das »Küken« ließ sich noch etwas sagen.
So hatten alle den Nutzen davon. Und ich wünschte vielen Eltern einen solchen Sohn und ihnen selbst so viel Liebe zur Wahrheit, dass sie sich auch unangenehme Dinge von jemand sagen lassen, der normalerweise nicht dazu bestimmt ist. Wir neigen ja zu Ausflüchten und Ausreden; aber das hat meistens unabsehbare Folgen. Dass es mit der Liebe zur Wahrheit meistens nicht weit her ist, hat so mancher erfahren müssen, der irgendwo ein Unglück kommen sah und helfen wollte. Da war die Freundschaft aus. Aber den Schaden tragen vor allem die Unbelehrbaren. Zu denen sollten wir aber nicht gehören!
Hermann Grabe