Da sitzt der fromme Mensch in seinem Studierzimmer und arbeitet angestrengt an einer geistlichen Abhandlung. Plötzlich klirrt die Fensterscheibe und ein Stein saust dicht an seinem Kopf vorbei und zerschlägt in dem Glasschrank gegenüber eine teure Vase. Ein schneller Blick zum Fenster zeigt auch noch, wer der Werfer war. – Nach einer langen Schrecksekunde besinnt sich unser Mann auf seine Christenpflicht und sagt voll Inbrunst: »Ich vergebe dir!«
Ist das nicht schön?
Nein, längst nicht immer; denn vielleicht war dieser Steinwurf der letzte verzweifelte Versuch, ein seit Jahren bestehendes Unrecht zur Sprache zu bringen. Dann wirkt nichts tödlicher als ein hochmütiges: »Ich vergebe dir!« Vielmehr wäre die Frage angebracht, warum dieser Mensch zu solchem Mittel gegriffen hat, warum er sich so drastisch Gehör zu verschaffen suchte. Vielleicht bin ja ich an der Reihe, um Vergebung zu bitten.
Wie viel Herzenshärte und Lieblosigkeit kann sich doch hinter einer frommen Maske verstecken! Manchmal ist es auch nur Gedankenlosigkeit. Die anderen haben es einem zu einfach gemacht, den Boss zu spielen und die Gefühle der Familienangehörigen zu missachten. Dann kann sich leicht ohnmächtiger Zorn aufstauen, der sich irgendwann und irgendwie Bahn bricht. »Was hat sie bloß?« »Was will er eigentlich?« heißt es dann auch noch oft. »Soll doch nicht so mimosenhaft sein!« Und dabei kann ein Herz zugrunde gehen.
Wir müssen Gott um wahre Liebe bitten, denn die Liebe tut dem Nächsten kein Leid an.
Hermann Grabe