Das Allerheiligste war das Innere des Tempels, sein Herzstück. Ein gemauerter, fensterloser Raum. Nur wenige Quadratmeter groß. Leer. Früher stand hier die Bundeslade. Dort hatte der Gott Israels seinen Thron auf Erden. Doch die Lade war längst nicht mehr da ... Nur der Raum als solcher war geblieben. Aber noch immer war man Gott und dem Himmel nirgendwo auf Erden näher als in diesem kahlen Raum. Er war heilig. Heiliger als heilig war er: allerheiligst. Ein Normalsterblicher durfte niemals in diesen Raum hineinschauen. Deshalb wurde er geschützt. Vor Gaffern. Durch einen schweren, dichten Vorhang. So wie ein Kleidungsstück hielt dieser alle Blicke von dem Raum als solchem fern. Dieses Kleidungsstück des Allerheiligsten zerriss in dem Moment, als Jesus starb.
Zu biblischer Zeit gab es ein Zeichen von Trauer, das wir heute nicht mehr kennen. Bei uns tragen Trauernde traditionell Schwarz. Damals zeigte nicht die Farbe der Kleidung an, dass jemand trauerte, sondern ihr Zustand. Wer vom Tod eines geliebten Menschen erfuhr, zerriss sein Obergewand - aus Trauer und Entsetzen.
An jenem Freitagnachmittag starb Jesus am Kreuz. Und in diesem Augenblick ging der Stoff, der Gottes Thron umkleidete, in Fetzen. Das sieht nach überwältigender, überweltlicher Trauer aus. Es scheint, als seien die Engel, die bei der Geburt von Jesus sangen und jubilierten, entsetzt. Der Himmel bleibt nicht unberührt von den Karfreitags-Ereignissen. Gott ist nicht der unbewegte Richter, der Jesus eiskalt am Kreuz hinrichten ließ, weil er gekränkt von der menschlichen Sünde Genugtuung fordert. Voller Schmerz und innerer Anteilnahme gab Gott seinen geliebten Sohn dahin, und das, damit Sie und ich ewig mit ihm leben können. Markus Wäsch