Jeden Tag zur selben Zeit war Chefarztvisite. Die Patienten warteten immer mit einer gewissen Spannung darauf, war das doch der Augenblick, wo man (endlich?!) erfuhr, wie es um einen stand. Auch der Mann, der - wie er immer betont hatte - eigentlich gar nicht hierhergehörte, der so sicher war, »kerngesund« zu sein, konnte eine leichte Anspannung nicht verbergen. Schließlich war die große Weltreise schon gebucht, und sie sollte so richtig genossen werden, jetzt, wo die Firma gerade verkauft, die persönliche Pensionskasse prall gefüllt war; zu der stationären Untersuchung hatte ihn nur sein Arzt überredet.
Das Ärzteteam stand noch eine Weile am Bett des Zimmergenossen, während er mit betonter Gelassenheit in einer Zeitschrift blätterte, die er in Wirklichkeit schon gelesen hatte. Jetzt kamen die Leute zu ihm, er legte die Zeitschrift weg und registrierte mit einigem Unbehagen, dass vier Augenpaare ihn ernst - sehr ernst sogar - ansahen.
Das Reden des Chefarztes drang plötzlich nur wie aus weiter Ferne zu ihm durch, während er wie betäubt die Gesichter anstarrte. War das wirklich an ihn gerichtet: nicht mehr zu behandelndes Krebsstadium, keine Aussicht auf Heilung, Lebenserwartung von nur noch wenigen Wochen? Da bäumte sich in ihm noch einmal seine starke Unternehmernatur auf; er brüllte die Ärzte an, das könne nicht wahr sein! Die Ärzte sahen ihn schweigend an, bis ihm die ganze Unsinnigkeit seines Verhaltens und eigentlich seines Lebens bewusst wurde: Er sank in die Kissen und weinte wie ein Kind.
So ist jeder - sagt der nächste Satz im Anschluss an unseren Tagesvers -, der Schätze für sich sammelt und nicht reich ist in Bezug auf Gott! Erwin Kramer