»Was für ein Geizhals!«, hatten wir Studenten oft gedacht, wenn eine unserer Professorinnen immer im gleichen schäbigen Mantel und per Fahrrad zur Hochschule kam – bis wir erfuhren, dass sie von ihrem damals nicht üppigen Gehalt zwei Neffen das Studium ermöglichte.
»Hast wohl zu lange ferngeguckt, was?«, dachte ich, wenn ich das schmächtige Mädchen schläfrig in der Schulbank sitzen sah – bis ich erfuhr, dass sie täglich schon vor der Schule einen ganzen Eimer Krabben ausgepult hatte, den ihr der Fischer gegen halb fünf vor die Tür stellte.
Wie oft wurde Peter ausgelacht, wenn er bei Langlaufübungen als Letzter fast über seine eigenen Füße stolperte – bis wir erfuhren, er sei zuckerkrank, was bis dahin noch niemand festgestellt hatte.
Wie viel Unrecht tun wir doch, wenn wir Urteile über andere fällen, ohne die wirklichen Gründe zu kennen, und wie hart fallen sie oft aus! Uns selbst dagegen billigen wir gern »mildernde Umstände« zu, wenn wir irgendwo versagt haben. Selten sind wir um Ausreden verlegen.
Wenn Gott so urteilte wie wir, könnten wir alle einpacken; aber er kennt uns Menschen und auch unsere Schwächen, so überfordert er niemand und beurteilt alles sachgerecht. Er weiß auch um die Schwierigkeiten, mit denen wir zu kämpfen haben. Das ist für glaubende Menschen ein großer Trost: Mögen uns alle ringsumher falsch beurteilen, Gott weiß, wie es wirklich war. Andererseits gibt es für sie auch kein Schlupfloch. Sie wissen: Einer ist da, dem wir nichts vormachen können. Das führt dann zu einem aufrichtigen Eingeständnis der Schuld. Vorher ist aber auch echte Vergebung unmöglich. Archiv