Aus den Tiefen rufe ich zu dir, HERR.
Psalm 130,1
Oscar Wilde (1854-1900) war eine künstlerische Symbolfigur seiner Zeit, genial in vielerlei Hinsicht, intellektuell wie stilistisch brillant. Wegen seiner Verwicklung in Perversionen endete sein Leben als Desaster. Verarmt, gesellschaftlich geächtet und getrennt von seiner beeindruckenden Frau und seinen beiden Söhnen, starb er mit 46 Jahren, nach Aussagen seines Freundes Robert Ross an Syphilis. Aus der Gefängnishaft, zu der er wegen Verstrickung in homosexuelle Prostitution verurteilt wurde, schrieb er: »Die Götter hatten mir fast alles gegeben. Ich hatte Genie, einen bekannten Namen, eine hohe gesellschaftliche Stellung, Brillanz und intellektuelle Kühnheit. … Doch neben diesen Dingen gab es noch anderes in meinem Leben. … Was mir das Paradox auf dem Gebiet des Denkens war, das wurde mir die Perversion auf dem Gebiet der Leidenschaft. Begierde wurde schließlich eine Krankheit oder ein Wahnsinn oder beides. Ich wurde rücksichtslos gegenüber dem Leben anderer. Ich pflückte mir Vergnügen, wo ich wollte, und ging achtlos weiter. Ich vergaß, dass jede kleine Handlung des Alltags den Charakter formt und zerstört und dass deshalb das, was man im Geheimen getan hat, eines Tages laut von den Dächern gerufen wird … ich endete in furchtbarer Schande.«
Die Abhandlung, dem dieses erschütternde Eingeständnis entnommen ist, trägt den Titel: »De profundis« - zu deutsch: »Aus den Tiefen«. Der Schriftsteller übernimmt hier den Beginn des Psalm 130 und veranschaulicht, in welche Tiefen die Verstrickung in Sünde führt. Leider hat Oskar Wilde nicht verinnerlicht, was der Psalmist weiter schrieb: »Wenn du, Ewiger, Sünden anrechnest, Herr, wer kann vor dir bestehen? Doch bei dir ist Vergebung, damit man Ehrfurcht vor dir hat.«
Gerrit Alberts