Hausaufgabenkontrolle in einer sechsten Klasse. Die Lehrerin läuft herum und überprüft bei jedem einzelnen Schüler das Vorhandensein und die Qualität der Hausaufgaben. Als sie mit ihrem Rundgang fertig ist, stellt sie fest: »Heute haben zwei oder drei Leute ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Damit haben wir den Normalzustand nicht erreicht. Möchte jemand unserem Besucher erzählen, was der Normalzustand ist?« Nachdem fast alle Finger nach oben gehen, erklärt ein Schüler: »Der Normalzustand ist, wenn alle Schüler ihre Hausaufgaben gemacht haben.« Als junger Praktikant und angehender Lehrer hat mich dieses Vorgehen schwer beeindruckt. Während ich zwei oder drei nicht gemachte Hausaufgaben als passable Quote eingeschätzt hätte, hatte die Lehrerin den Anspruch, dass tatsächlich alle Schüler ihre Hausaufgaben erledigen sollen. Im weiteren Unterrichtsverlauf bestätigte sich mein Eindruck, dass sie um den Fortschritt von jedem ihrer Schülern besorgt war.
Als ich über diese Vorgehensweise weiter nachdachte, stellte sich mir die Frage, was wir Menschen im Allgemeinen als »Normalzustand« akzeptieren. Sind wir Idealisten mit hohen Ansprüchen oder Pragmatiker, die sich aufgrund ihrer Erfahrungen mit weniger zufriedengeben? Im Gleichnis vom verlorenen Schaf zeigt Jesus, wie sehr ihm der Einzelne etwas bedeutet. Der dort beschriebene Hirte ließ 99 Schafe im sicheren Pferch zurück, um draußen in der Einöde das eine verirrte Schaf zu suchen. Statt sich mit dem Verlust abzufinden, war es sein Anspruch, möglichst alle Schafe sicher nach Hause zu bringen. Jesu angestrebter Normalzustand ist es, dass keiner auf der Strecke bleibt. Auch bei mittlerweile sieben Milliarden Erdbewohnern behält Jesus noch heute den Blick für den Einzelnen. Sebastian Lüling