Was hatte der Prophet Jeremia nicht alles versucht, um im Auftrag Gottes das Volk Israel vor dem drohenden Untergang zu bewahren! Aber er wurde nicht ernst genommen, man hat ihn verlacht, bedroht und schließlich ins Gefängnis geworfen. Nun ist das angedrohte Gericht in voller Härte über das Volk hereingebrochen. Die einst stolze Hauptstadt Jerusalem liegt in Schutt und Asche. Der prachtvolle Tempel, den König Salomo erbauen ließ, ist zerstört. Fremde Soldaten haben die kostbaren Schätze weggeschleppt und das Heiligtum in den Schmutz getreten.
Anstatt sich nun mit einem schadenfrohen »Das habt ihr nun davon!« von seinem Volk abzuwenden, leidet Jeremia mit seinem Volk. Er beschreibt die schreckliche Situation in fünf erschütternden Trauergesängen – und das in Form einer kunstvollen Dichtung, den »Klageliedern«, zu finden in der Bibel. Diese inhaltsschweren Verse haben schon manchem Verzweifelten zu einem neuen Aufblick verholfen.
Wenn heute ein Unglück geschieht, werden immer wieder die Fragen gestellt: »Wo war Gott?«, oder: »Wie kann ein allmächtiger Gott so etwas zulassen?« Das Bemerkenswerte an Jeremias Klageliedern ist, dass hier zwar ein schweres Gericht Gottes über sein Volk beschrieben und beklagt, aber an keiner Stelle eine Anklage gegen Gott erhoben wird. Jeremia erkennt in dem Geschehen die Folge von Sünde und Rebellion gegen die Gebote Gottes.
Nicht jede Katastrophe ist eine Strafe Gottes, aber es ist eine Art, wie Gott sich bemerkbar macht. C.S. Lewis (1898-1963) formulierte es treffend: »Gott flüstert in unseren Freuden, er spricht in unserem Gewissen; in unseren Schmerzen aber ruft er laut. Sie sind sein Megafon, eine taube Welt aufzuwecken.«
Günter Seibert