»Nicht die Vollkommenen sind es, die Liebe brauchen, sondern die Unvollkommenen.«
Dieser Satz von Oscar Wilde brachte mich ins Nachdenken. Stimmt es wirklich, dass gerade die unvollkommenen Menschen Liebe brauchen? Wenn ich ehrlich bin, dann liebe ich diejenigen Menschen besonders, die mir sympathisch sind, die ein umgängliches, freundliches, fröhliches Wesen haben. Menschen, die mir zumindest annähernd vollkommen erscheinen. Menschen, die liebenswürdig sind und von denen wir also sagen würden, dass sie Liebe verdienen, dass sie unserer Liebe würdig sind. Solche Menschen zu lieben, fällt mir jedenfalls leichter, als gerade die Unvollkommenen zu lieben. Aber Jesus sagte einmal: »Wenn ihr liebt, die euch lieben, welchen Lohn habt ihr?« (Matthäus 5,46). Ja, die zu lieben, die uns auch lieben, das ist keine Kunst! Aber denjenigen Liebe zu zeigen, die sich diese weder erarbeitet haben noch erwidern, das fällt uns sehr schwer.
Und doch hat Jesus genau das getan. Er wandte sich gerade den Menschen zu, die am Rand der Gesellschaft standen: den Bettlern, Kranken, Prostituierten. Der Grund seiner Liebe lag nicht in den Menschen, welche diese Liebe etwa verdient hätten. Nein, der Grund von Gottes Liebe liegt in ihm selbst. Er liebt die, welche Liebe besonders nötig haben und sich dessen bewusst sind, dass sie sich diese Liebe niemals verdienen könnten.
Deshalb liebt Jesus auch mich. Er liebt mich nicht, weil er sah, dass ich ein sympathischer Mensch bin oder weil er erwartete, in mir einen treuen Freund zu finden. Nein, er liebt mich, gerade weil ich so unvollkommen, so sündig bin, dass ich seine Liebe und seine Vergebung dringend brauche.
Michaja Franz