Irritiert hatte mich der Kollege angeschaut. Soeben hatte ich mich erkühnt zu behaupten, dass Selbstverständnis (eine geschätzte Eigenschaft im Berufsleben) nicht selten aus einem Mangel an Selbsterkenntnis erwächst und dass Letztere manchem gut täte. Das waren für ihn wohl Gedanken von vorgestern. »Selbsterkenntnis«? – das gab es nicht in seinem Wortschatz.
Nein, solche Begriffe wie Selbstkritik, Selbstbeschränkung, Selbstüberwindung, Selbstlosigkeit oder gar Selbsterniedrigung und Selbstaufopferung sind keinesfalls populär. Hoch im Kurs stehen dagegen Eigenschaften wie Selbstständigkeit, Selbstbehauptung, Selbstbestätigung, Selbstvertrauen, Selbstverwirklichung, Selbstentfaltung, Selbstbewusstsein, Selbstdarstellung, Selbstsicherheit usw. Fließend sind die Grenzen zu Selbstüberhebung, Selbstüberschätzung, Selbstherrlichkeit und Selbstbeweihräucherung. Wer dagegen selbstgenügsam ist oder gar mit Selbstzweifeln oder Selbstanklagen zu tun hat, outet sich selbst.
Was würde man heute wohl zu dem Mann aus Nazareth sagen? Oder wie würden wir von Jesus Christus beurteilt? Er, Gott von Ewigkeit, erniedrigte sich und machte sich selbst zu nichts. Er überließ sich den Händen seiner verblendeten und von Selbstsucht beherrschten Geschöpfe und ging den vorgezeichneten Leidensweg bis zum bitteren Ende. Hatte er dabei Regungen des Selbstmitleids oder der Selbsterhaltung? – Nichts davon. Er war, im Gegensatz zu seinen Richtern und Peinigern, und zu uns, für die er sich opferte, »sanftmütig und von Herzen demütig« (Matthäus 11,29). Ihm nachfolgen, bedeutet Selbstverleugnung (Matthäus 16,24). Eine Zumutung? Bedenken wir, wie viel wir ihm wert waren! Johann Fay