Sie ist zum ersten Mal in der Kontaktgruppe, dem christlichen Gesprächskreis, den wir in diesem Frauengefängnis anbieten. Interessiert hört sie bei der Andacht zu. Und auch bei den gemeinsamen Liedern schaut sie jeden fragend an. Alles scheint für sie völlig neu und ungewohnt zu sein. Nach dem gemeinsamen Gebet kommen wir ins Gespräch. »Warum kommt ihr hier ins Gefängnis? Was ist euer Anliegen? Ihr seid so anders als alle, die ich kenne«, will sie wissen. »Wir wollen euch die beste Botschaft der Welt bringen«, ist meine Antwort. »Und die wäre?«, fragt sie irritiert. »Nun«, erkläre ich ihr, »alle hier im Knast wissen: Der Richter kann nur bestrafen. Er kann nicht die Schuld wegnehmen. Auch wenn die Strafe abgesessen ist, ist die Schuld immer noch da.« Sie nickt betroffen. »Sehen Sie, Schuld kann nicht durch Strafe ausgelöscht werden, sie kann nur vergeben werden. Und das kann nur Gott.« - »Und wie geht das?«, will sie wissen.
Ich reiche ihr meine Bibel und schlage den obigen Bibelvers auf: »Lesen Sie das mal!« Halblaut liest sie. Fragend schaut sie mich an: »Alle Sünden?« - »Lesen Sie noch mal!« - »Auch die Schlimmen?« - »Was steht denn da im Text« - »Äh, auch ... Mord?« - Lesen Sie noch mal!« - Und wieder liest sie. Ganz langsam. Ihre Augen sind wie ein großes Fragezeichen: »Auch ... viele Morde?« - »Lesen Sie noch mal!«, ermutige ich sie.
»Aber ... das ist ... ja ... Wahnsinn!«, stammelt sie und kann es kaum fassen. »Das müssen doch alle hier im Knast wissen!« - »Ja«, sage ich, »wissen Sie, darum kommen wir ja hierhin. Denn alle sollen es wissen!« Eberhard Platte