Was die Bibel unter Freundlichkeit versteht, wird durch folgende Geschichte deutlich: Otto der Große, der erste deutsche Kaiser, regierte von 936–973. Sein Bruder Heinrich wäre selbst gern König oder gar Kaiser geworden. Darum hatte er seinen Bruder mit einem stattlichen Heer bekämpft. Doch Otto war Sieger geblieben. Eigentlich hätte Heinrich wegen Hochverrats die Todesstrafe verdient gehabt; aber bei einer Weihnachtsfeier kam er plötzlich nach vorn und fiel seinem Bruder zu Füßen und bat ihn um Vergebung. Otto hob ihn auf und vergab ihm seinen Aufstand.
Das war die Freundlichkeit, von der die Bibel spricht. Otto mag in freundlicher oder gar vergnügter Stimmung gewesen sein, weil Weihnachten war, auch wusste er wohl, dass er keine Furcht mehr vor seinem Bruder haben musste; aber das war nicht alles: Es wird auch berichtet, dass er ein frommer Mann war und »der Beter« genannt wurde. Wer Gott wirklich kennt, der weiß ebenso um Gottes Menschenliebe. Sie kann uns helfen, Güte und Freundlichkeit zu üben, selbst dort, wo man sie nicht verdient.
Wir Menschen befinden uns von Natur aus alle im Aufstand gegen Gott und haben Gottes Zorn verdient. Wer aber wie einst Heinrich demütig um Gnade bittet, der kann auch heute noch die freundliche Barmherzigkeit Gottes erleben – und der ist noch viel mächtiger als selbst der alte Sachsenkaiser. Er zeigt seine Freundlichkeit darin, dass er nie wieder auf etwas zu sprechen kommt, was er uns einmal vergeben hat. Das tut er alles um seines Sohnes, Jesu Christi, willen. Denn der hat alle gerechten Ansprüche Gottes an unserer Stelle zufriedengestellt – auch allein aus lauter Freundlichkeit.
Hermann Grabe