Neulich sah ich, wie sich ein winziges, fast durchscheinendes Insekt lange Zeit bemühte, durch die Fensterscheibe in mein Zimmer zu gelangen. Es flog immer auf und ab, ruhte sich inzwischen ein wenig aus und setzte dann seine Anstrengungen fort.
Mir war das ein Gleichnis für das beharrliche Mühen von uns Menschen, ein angestrebtes Ziel zu erreichen, das ganz klar und eindeutig vor uns liegt und doch nicht zu erreichen ist. Eine uns unerklärliche, unsichtbare Wand (im Fall des kleinen Insekts die Glasscheibe) liegt dazwischen. Da bewirbt sich jemand um eine Anstellung, deren Aufgabenprofil er oder sie zusammen mit besten Empfehlungen genau erfüllt, und ein anderer bekommt die Stelle. Ein anderer meint, der passendste Partner für eine ersehnte Zweisamkeit zu sein, und dann kommt ein Dritter dazwischen. Und wieder ein anderer sieht eine glänzende Sportlerkarriere vor sich, und dann tritt ein gesundheitliches Problem auf.
Wer unserem Tagesvers wirklich glauben kann, weiß, dass Gott, der Vater im Himmel, nur Gutes mit ihm vorhat und uns vor ungeahnten Schäden bewahren will, in die wir zweifellos geraten würden, wenn er unseren Herzenswunsch erfüllt hätte, so wie das kleine Insekt schnell verhungert oder anderweitig umgekommen wäre, wenn ich ihm das Fenster geöffnet hätte.
Doch wer ohne Gott in der Welt lebt, kann an solchen Erfahrungen zerbrechen, oder er wird zynisch, weil er alles einem unberechenbaren, kalten und erbarmungslosen Schicksal zuschreiben muss, dem man sich mit allen Mitteln - wohl oder übel - entgegenstemmen muss. Ach, möchten doch alle Leser begreifen, dass Gott es nur gut mit seinen Menschenkindern meint!
Hermann Grabe