Eine sehr kluge Frau sagte einmal: »Freiheit ist die Freiheit des anderen.« Um das zu verstehen, muss man sich die ideale Gesellschaft wie ein Schachbrett vorstellen, auf dem jede Figur ein ganzes Feld für sich allein hat, sei es ein Bauer oder der König. Leider gibt es diese ideale Gesellschaft schon lange nicht mehr, weil die Starken und Durchsetzungsfähigen schon früh in der Menschheitsgeschichte in die »Felder der Waisen« eingedrungen sind, um sich auf deren Kosten zu bereichern, wie unser Tagesvers es eigentlich verbietet.
Wahre, wirklich nachhaltige Freiheit bedeutet also nicht, dass jeder machen darf, wozu er in der Lage ist, sondern dass das Recht des Nächsten respektiert wird, auch wenn der es selbst nicht verteidigen kann. Die Kommunisten hatten ja dieses Ideal auf ihre Fahnen geschrieben, nur mussten sie feststellen, dass sie die dafür nötige Gesinnung in den von ihnen beherrschten Leuten nicht herstellen konnten, selbst wenn sie es mit Gewalt durchzusetzen versuchten. Macht- und Geldgier haben es stets zu verhindern gewusst.
Unser Tagesvers ist aber ein göttliches Gebot. Wenn wir es übertreten, bekommen wir es mit dem zu tun, der sich selbst »Vater der Witwen und Waisen« nennt. Es mag ein ganzes Leben lang so aussehen, als ob die Unterdrücker ungeschoren davonkommen; aber eines Tages werden wir uns alle vor Gott verantworten müssen. Da wäre es doch klug, schon heute Frieden mit ihm zu schließen und dann auch seine Schutzbefohlenen nicht zu bedrängen. Das sind aber nicht nur die »Witwen und Waisen«, sondern auch alle anderen Schwächeren, mit denen wir es täglich in der Familie oder auf dem Arbeitsplatz zu tun haben.
Hermann Grabe