Ja, du bist es, der mich aus dem Mutterleib gezogen hat, der mir Vertrauen einflößte an meiner Mutter Brüsten.
Psalm 22,10
Zu dem heutigen »Tag der Muttersprache« scheint der Tagesvers nicht der passendste zu sein. Doch wir werden sehen: Sprache hat sehr viel mit der »Mutter« zu tun. Deswegen halte ich das Wort »Muttersprache« im Deutschen für sehr angebracht, genau so wie das Wort »Stillen«. Das Kind an der Mutterbrust ist still, es beschwert sich nicht und hat keine Angst. Es fühlt sich geborgen. Es gibt Sprachwissenschaftler, die mit guten Gründen vermuten, dass ein Baby einen ersten Anreiz zum Sprechen eben an der Mutterbrust findet. Das Öffnen und Schließen des Mundes gehört zu dieser Situation; kommt dann die Stimme hinzu, beginnt das Sprechen – und »Mama« ist dabei nicht umsonst oft das erste Wort.
Das Sprechen der Mutter mit dem Kind ist dann nicht mehr weit, auch nicht das mit anderen Menschen. Die Muttersprache stiftet Gemeinschaft, entwickelt Bindekraft und Intimität. Über die Sprache lernt das Kind zu vertrauen, zu erbitten, zu danken. Wer nun auch noch bei seiner Mutter beten gelernt hat, der hat auch gelernt, dass man in der jeweiligen Muttersprache mit Gott reden kann. Gott versteht jede Muttersprache. Wir wollen dankbar sein, dass Gott uns Sprache gegeben hat, die es uns ermöglicht, im Gebet Verbindung mit Gott aufzunehmen und alles vor ihm auszuschütten, was uns bedrängt oder was uns froh macht – und alles in unserer Muttersprache.
Mit unserer Sprache, die wir von klein auf gelernt haben, können wir vor allem das wichtigste Anliegen, das man in Worte fassen kann, Gott gegenüber »zur Sprache bringen« – wie der König David: »Ich sprach: HERR, sei mir gnädig! Heile meine Seele, denn ich habe gegen dich gesündigt« (Psalm 41,5). Mit diesen Worten hat jede Muttersprache das höchste Ziel erreicht.
Karl-Otto Herhaus