Manchen fällt das Vergeben schwer, weil sie nicht wissen, was das ist.
Es ist Sommer. In meinem Garten steht ein Pflaumenbaum, voll mit reifen, süßen Pflaumen. Ich gehe in den Garten, um mir einige Früchte zu pflücken. Da entdecke ich zwischen den Zweigen ein Jungenbein. Ich fasse zu, und nachdem ich einigermaßen energisch gezogen habe, kommen auch das andere Bein und der dazugehörige Junge zum Vorschein. Ich stelle den Missetäter auf den Boden, schaue ihn ernst an - und lasse ihn dann los, entlasse ihn. Erleichtert rennt er davon.
Ich hätte den kleinen Pflaumendieb ja auch einer Bestrafung zuführen können: die Eltern anrufen, schelten, den Schaden ersetzen lassen, zumindest eine Strafpredigt verordnen ... Das alles habe ich nicht getan. Stattdessen habe ich ihm vergeben. Wirklich?
Im Neuen Testament gibt es für »vergeben« zwei Wörter. Das eine von den beiden bedeutet »entlassen«. Habe ich ihn wirklich entlassen, als ich ihn freigab? Ich glaube nicht. Er muss immer noch fürchten, dass ich mit seinen Eltern rede oder irgendetwas Unangenehmes tue. Wirklich entlassen hätte ich ihn, wenn ich ihm versichert hätte, dass ich nicht böse bin, wenn er mir verspricht, nicht wieder zu klauen. Dann hätte ich auch seine Seele aus der Haft entlassen, die er nun noch immer spüren muss.
Wenn Gott uns unsere Schuld vergibt, dann steht hinter dem Laufen-lassen außerdem noch die große Wahrheit, dass sein Sohn, Jesus Christus, für meine Schuld den Preis bezahlt hat, dass sie also abgebüßt ist, und ich deshalb wirklich und für alle Zeit und Ewigkeit frei von ihr bin. Das beruhigt das Gewissen und lässt uns diesem großen Gott gegenüber dankbar werden. Hans-Peter Grabe