Das berühmteste deutsche Gedicht stammt nicht von Dichterfürsten wie Goethe oder Brecht, sondern von Matthias Claudius: »Der Mond ist aufgegangen«. Es wurde 1779, also vor 240 Jahren, veröffentlicht. Nicht wenige kennen es als Lied von früher Kindheit an. Meine zweijährige Enkelin hört es jeden Abend vor dem Einschlafen. Aber es ist viel mehr als ein Kinderlied.
Matthias Claudius beschreibt die Stille des Abends und tritt dann im Geist ein paar Schritte vom Alltag zurück und denkt über das Wesentliche nach. »Seht ihr den Mond dort stehen? / Er ist nur halb zu sehen, / und ist doch rund und schön. / So sind gar manche Sachen, / die wir getrost belachen, / weil unsere Augen sie nicht sehn.« Claudius war ein Kritiker der philosophischen Epoche der Aufklärung. Er hielt es für Überheblichkeit zu meinen, dass der Mensch alles begreifen und beherrschen kann. Stattdessen mahnt er zur Bescheidenheit, sowohl in moralischer als auch in intellektueller Hinsicht: »Wir stolzen Menschenkinder / sind eitel arme Sünder / und wissen gar nicht viel.«
Zwar haben wir sehr viel Wissen angehäuft, aber haben wir Antworten auf die zentralen Fragen: Woher komme ich? Wozu bin lebe ich? Wohin gehe ich? In Bezug auf diese Themen meint Claudius: »Wir spinnen Luftgespinste / und suchen viele Künste / und kommen weiter von dem Ziel.« Deshalb sucht er eine Quelle der Einsicht, die zwar nicht ohne unseren Verstand zugänglich ist, aber über unseren Verstand hinausgeht. Ihm ist klar, dass er Gottes Offenbarung braucht: »Gott, lass dein Heil uns schauen,/ auf nichts Vergänglich's bauen, / nicht Eitelkeit uns freun. / Lass uns einfältig werden / und vor dir hier auf Erden / wie Kinder fromm und fröhlich sein.«
Gerrit Alberts