Fünf Minuten vor Abfahrt des Zuges stand ich auf dem Bahnsteig, als ein schwankender Mann auf mich zukam. Schon taumelte er über die weiße Sicherheitslinie. Dann machte er noch eine torkelnde Wendung und stürzte drei Meter von mir entfernt auf den Gleiskörper. Dabei schlug er mit dem Kopf direkt auf die Schiene, wo er bewusstlos liegen blieb. Sofort suchte ich einen Alarmknopf; vielleicht konnte man damit den Zug aufhalten. Aber da sprangen auch schon zwei mutige Männer nach unten und versuchten, den schweren Menschen auf den Bahnsteig zu bugsieren. Es gelang erst, als ein dritter zu Hilfe kam. Und kurz danach rauschten die Räder der Lok über die Stelle.
Bei dem Gedanken an das, was hätte geschehen können, durchfährt mich immer noch ein Schauer. Wer natürlich meint, mit dem Tod sei alles aus, der würde diese Art zu sterben als »kurz und schmerzlos« bezeichnen. Das mag auch so sein. Doch ich glaube, dass für jeden Menschen gilt, was der Prophet Amos seinen Landsleuten in unserem Tagesvers zurief: Jeder muss nach seinem Abschied von dieser Welt vor seinem Schöpfer erscheinen. Und dann ist es ein ganz fundamentaler Unterschied, ob man dort »bloß und aufgedeckt« allein vor Gott steht, oder ob man mit der Gerechtigkeit von Jesus Christus bekleidet und mit ihm als Fürsprecher zur Seite zu Gott kommen darf.
Bei dem von den Gleisen Geretteten wissen wir nicht, ob er betrunken war oder ob er zu starke Tabletten genommen hatte, ob er fromm oder gottlos war. Aber von uns selbst wissen wir es ganz genau. Wären wir jetzt bereit, abzutreten, oder haben wir unsere Sache mit Gott noch nicht geklärt? Heute wäre ein guter Tag dafür. Dina Seel