Er läuft stets auf den Zehenspitzen, hat beflügelte Füße, eine Haarlocke, die ihm in die Stirn fällt und einen vollkommen kahlen Hinterkopf – trotz dieses markanten Äußeren fristet Kairos ein Schattendasein unter den griechischen Gottheiten. Für die Griechen personifizierte er den passenden Zeitpunkt oder die gute Gelegenheit. Der Dichter Poseidippos von Pella verfasste ein imaginäres Interview mit dem Unbekannten, in dem Kairos sein Aussehen dem Betrachter erläutert. »Ich, die gute Gelegenheit, laufe unablässig und fliege wie der Wind, an meiner Haarlocke kann mich jeder ergreifen, der mir begegnet. Wenn ich aber vorbeigeglitten bin, wird mich wegen meines kahlen Hinterkopfes keiner mehr erwischen, so sehr er sich auch bemüht!« So können seine Aussagen zusammengefasst werden, und so erklärt sich auch das Sprichwort, das wir heute noch benutzen.
Die Bibel verwendet den Begriff »Kairos« ebenfalls. Inmitten der dahinfließenden Zeit, hat auch Gott gelegene und besondere Zeitpunkte festgesetzt. Der entscheidende Zeitpunkt war das Senden seines Sohnes Jesus Christus, der als Mensch auf der Erde lebte, starb und wiederauferstand, um Umkehr und Rettung anzubieten. In dem Moment, in dem er scheinbar an einem Höhepunkt angekommen ist und in Jerusalem wegen seiner Wundertaten als König verehrt wird, weint Jesus über die Stadt. Er sieht hinter die Fassade und weiß, dass die Menschen den Grund seines Kommens nicht erkannt haben und von ihrem bösen Tun nicht umkehren werden. Die Gelegenheit der Rettung war an ihnen vorbeigezogen.
Auch für uns setzt Gott eine Zeit fest, in der wir durch seine Vergebung Rettung erleben können, aber diese Zeit ist nicht unbegrenzt. Janina Porten