Kaiser Otto durfte zwar erst lesen lernen, als sein Vater, König Heinrich, tot war; aber er hat es doch noch zu einer der bedeutendsten Gestalten der deutschen Geschichte gebracht. Er wusste sich wohl durchzusetzen, sonst hätte er das erste Jahr seiner Regentschaft wohl kaum überlebt. Aber wenn sich einer seiner Gegner ergab und ihn bedingungslos anerkannte, so vergab er ihm seinen Verrat und setzte ihn oft sogar in seine alten Ämter wieder ein. Mit seinem eigenen Bruder hat er es tatsächlich dreimal so gemacht. Gütigkeit darf man nicht mit klugem Taktieren verwechseln; denn in reiner Form kann nur der gütig sein, der zweifelsfrei auch anders handeln und zum Beispiel Rache nehmen könnte, wie eben Kaiser Otto.
Noch viel mehr Macht hat Gott, der Schöpfer Himmels und der Erde. Wenn er sich herablässt, mit den Verächtern seiner Güte wieder das Gespräch zu suchen, so ist es die reine Gütigkeit, die Summe alles Guten, wie das Wort eigentlich übersetzt werden müsste. Denn er hat das Taktieren überhaupt niemals nötig. Er ist nur selbst von Herzen gnädig und gut.
Wie oft müssen wir Menschen Gott um Vergebung bitten! Und immer wieder ist er bereit, unserer Torheiten und Verrätereien nicht mehr zu gedenken - wenn er in unseren Herzen aufrichtiges Bedauern sieht.
Bei wem nun Gottes Liebe Einzug gehalten hat, der ist ebenfalls fähig, in diesem Sinn Gutes zu tun und Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Wie oft? Petrus meinte siebenmal am Tag; aber Christus sagte ihm, er müsste auch siebenmal siebzigmal dazu bereit sein, also immer.
Wenn wir dazu nicht bereit sind, ist es ein sicheres Zeichen, dass die Liebe Gottes noch nicht bei uns angekommen ist.
Hermann Grabe