Wir waren in Warschau mit Jenny Robertson verabredet. Sie wohnt in dem Haus, das früher der Gestapo als Hauptquartier diente. Dort wertet sie jüdische Dokumente aus, um den erschütternden Stimmen aus dem Warschauer Ghetto heute Gehör zu verschaffen, Stimmen, die angesichts des unvorstellbaren Grauens immer wieder die Frage stellen: »Wo ist Gott? …« Dort, wo sie sich einst wohl fühlten, marschieren die Juden in gehorsamer Ordnung in den Tod. Die Gesetzestafeln sind zerbrochen, das Gesetz zertreten. Alles um uns ist Dunkelheit. Das Volk kommt um … Wo ist Gott?« Trotz all des Grauens zeugen andere Stimmen von absoluter Treue zu Gott. Die letzten Worte einer sterbenden Mutter, die ihre Tochter verteidigen wollte, schrieb ein Zeuge auf: »Mein Kind, das Ende ist gekommen … Du wirst eine Waise sein, aber du musst wissen, dass Gott im Himmel ist … Er ist der beste Vater und wird dich nie im Stich lassen … Lebe mit Gott, behalte ihn immer in deinem Herzen. Liebe die Welt und die Menschen, weil Gott sie geschafften hat. Er weiß, was er tut.« Ein anderer Zeuge des Grauens im Warschauer Ghetto fragt: »Warum gibst du, o Gott, das Blut der Unschuldigen dem Moloch?« Aber dann fährt er fort: »Mein Geist hat neue Kraft bekommen zum Glauben an den Gott Israels. Ich glaube fest, dass Israel nicht ausgelöscht wird.« Diesen Glauben hat Gott bestätigt und Israel aus dem Holocaust heraus in das Land der Väter zurückgeführt, wie Gott es ihnen versprochen hatte (vgl. Hesekiel 36,24).
Welche Entschuldigung hätten wir als Christen, wenn wir das Evangelium kennen und doch an Gott verzweifeln? Hartmut Ising