Ein scharfer Beobachter menschlicher Schwächen sagte einmal: »Dass einer klüger ist als wir, das macht uns selten nur Pläsier (d.h. gefällt uns selten); doch die Gewissheit, dass er dümmer, erfreut fast immer.« Wenn das stimmt, dann trifft auf unseren Tagesvers zu, was jener berühmte Sozialist meinte, nämlich dass der Kommunismus wunderbar sei, man habe nur nicht die richtigen Leute dafür. Die Menschheit im Allgemeinen taugt einfach nicht dazu, selbstlos zu sein und dem Nächsten das Gleiche zu gönnen, was man für sich selbst erstrebt. Überall in der Welt haben verschiedene Systeme versucht, Selbstlosigkeit mit Gewalt zu erzwingen, und sind damit letztlich gescheitert, weil wir Menschen von Natur unverbesserliche Egoisten sind.
Welchen Sinn aber macht es dann, dass die Bibel nicht nur die Ichsucht bekämpfen, sondern auch noch fordern will, unseren Nächsten höher einzustufen als uns selbst? Das bedeutet doch, zunächst einzusehen, der Nächste habe es verdient, dass es ihm besser geht als mir. Es geht nicht nur darum, dass andere vielleicht intelligenter sind als wir, sondern auch um moralische Wertmaßstäbe. Auf der ganzen Linie sollen wir den anderen höher als uns selbst einstufen! Das geht nur, wenn man ehrlich zugibt, von niemandem so viel Schlechtes zu wissen wie von sich selbst. »Ja«, wird da mancher sagen, »so kann man doch unmöglich weiterkommen, wenn man sich in der Rangordnung stets an die letzte Stelle setzt.«
Doch haben das viele getan, weil sie durch die Bibel zu der Erkenntnis kamen, dass in ihnen nichts Gutes wohnt. Aushalten kann man das natürlich nur, wenn man weiß, dass Gott gerade für solche Menschen seinen Sohn gesandt hat, damit sie von allen ihren Defiziten erlöst und befreit werden.
Hermann Grabe