Mein Mann und ich waren vor einiger Zeit in Dserschinsk, einer Stadt mitten in Russland. Dort haben wir viele Freunde, die wir wieder einmal besuchen und ein wenig aufrichten wollten. Am Abend eines solchen Tages waren wir ziemlich müde und sehnten uns nach der kleinen Einzimmerwohnung, die man uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt hatte.
Kurz bevor wir unsere Haustür erreicht hatten, sahen wir auf einer schiefen Holzbank eine Mutter mit ihrem Kind sitzen. Das Kind bat die Mutter ganz jämmerlich: »Bitte, bitte, Mama, entschuldige, dass ich nicht gehorcht habe!« Aber die erboste Mutter schrie ganz laut: »Nein! Kommt gar nicht in Frage! Wie oft habe ich dir schon gesagt, was du tun sollst; aber du hörst einfach nicht!« Das Kind weinte, doch die Mutter schimpfte weiter und blieb unerbittlich.
Während wir in einem wackligen Fahrstuhl in den sechsten Stock fuhren, in dem unsere Unterkunft lag, ging mir diese Szene dauernd durch den Kopf. Mir tat das Kind schrecklich leid, weil ich aus Erfahrung mit vielen ungeliebten Kindern ahnte, was in so einem Herzen vor sich ging und welche hoffnungslose Verzweiflung schon in jungen Jahren das Leben zur Hölle machen kann. Oben angekommen, ließ ich meinen Mann zurück und fuhr wieder nach unten. Aber da waren die beiden schon fortgegangen. Wie gern hätte ich ein gutes Wort für das Kind eingelegt. Nun war es zu spät.
Mir wurde aufs Neue klar, dass es in vielen Häusern namenloses Elend gibt - nicht nur irgendwo in Russland, sondern auch hier bei uns. Und wie einfach wäre doch etwas zu ändern, wenn man zum Vergeben bereit wäre. Wir alle hängen von Gottes Vergebungsbereitschaft ab. Da sollten wir auch jederzeit zum Vergeben bereit sein. Anna Schulz