Den Mauerbau vor 45 Jahren empfanden die meisten Menschen als überaus brutalen Eingriff in die grundlegenden Rechte der Betroffenen. Von Seiten der DDR-Regierung sah man allerdings darin den »antifaschistischen Schutzwall« gegen den Westen. Vielleicht denkt jemand: Hör doch damit auf! Seit der Wiedervereinigung gibt es das Ding ja gar nicht mehr. Das stimmt, aber bemerkenswert ist, wie unterschiedlich man die gleiche Sache betrachten kann, je nach Interessenlage. Da bauen wir innerlich gegen jemanden eine Mauer auf, der andere ist unglücklich, weil er gern mit uns zu tun hätte, und wir wollen uns vor ihm abschotten. Die Gründe können ganz vielfältig sein: Wir haben Angst, von dem anderen vereinnahmt zu werden, oder wir fühlen uns durch ihn ermahnt und herausgefordert. Dann suchen wir natürlich nach Gründen, und da jeder Mensch Fehler hat, braucht man die nur in Gedanken auf die benötigten Dimensionen zu vergrößern, und schon ist ein ausreichendes Feindbild da.
Erst wenn wir ehrlich werden und einsehen, dass auch wir Sünder sind vor Gott, haben wir ein vordringlicheres Problem als den Mauerbau, nämlich mit Gott ins Reine zu kommen. Und wenn wir begreifen, wie viel uns vergeben werden musste, werden wir auch bereit, den anderen so anzunehmen, wie Gott uns angenommen hat – auch auf das Risiko hin, dass daraus Schwierigkeiten erwachsen können. Mit Gott als zuverlässigem Freund und Helfer im Rücken werden wir aber in rechter Weise damit umgehen können. Sobald der andere auch den Weg zu Gott findet, kann das wahr werden, was in unserem Tagesspruch steht. Wäre das nicht schon ein Stück »Himmel auf Erden«?
Hermann Grabe