Was ist über den Priester und den Leviten in diesem Gleichnis nicht alles geredet worden! Man nannte sie hartherzig, egoistisch, feige, heuchlerisch und ohne Mitgefühl, sie dächten nur daran, wie sie morgen im Tempel wieder groß rauskommen können und übersähen dafür die klarsten Gebote der Nächstenliebe.
Wer das sagt, hat den Text nicht gut gelesen und das Wort »hinab« übersehen. Von dieser Art Priesterschelte steht in dem Gleichnis gar nichts, sie macht sich nur so gut, weil wir uns gern über andere erheben. Das Problem war in Wirklichkeit, dass die beiden selbst hinab nach Jericho zogen. Und wer nach Jericho hinabgeht, kann niemand nach Jerusalem hinaufbringen. Das leuchtet natürlich ein; aber viele versuchen trotzdem, für Gott tätig zu sein, während ihr Herz der gottlosen Welt zugeneigt ist, oder sogar heimlich oder offen die Gebote Gottes mit Füßen tritt. Dann kann man aber kein wahrer Wegweiser zu Gott sein, man begreift gar nicht, worauf es ankommt, man geht - wie das Gleichnis sagt - ohne helfen zu können, an der entgegengesetzten Seite vorüber.
Jeder, der in der christlichen Arbeit steht, sei es in der Gemeinde oder als Vater oder Mutter bei der Erziehung der Kinder, sollte sich dies Gleichnis zu Herzen nehmen. Darum noch einmal: Wer nach »Jericho« hinabgeht, kann niemand nach »Jerusalem« hinaufbringen. Es kommt für alle darauf an, selbst den Weg treuer Nachfolge zu gehen, sonst hat man keine Chance, jemand den rechten Weg zu zeigen. Es ist dann so, als sagten die Anbefohlenen: »Ich kann deine Worte nicht verstehen, weil deine Taten so laut dagegen anreden!«
Hermann Grabe