Robin (Namen geändert) aus der 5. Klasse kommt nach vorne zum Lehrerpult. Er kramt in seiner Hosentasche und zieht umständlich einen völlig zerknüllten Zettel hervor. Er reicht mir das Papier und flüstert dabei: »Da, … lesen Sie das.« Seine Augen sind erwartungsvoll auf mich gerichtet. Robin beginnt zu weinen.
Ich entfalte den Zettel, auf dem er in kaum leserlicher Schrift geschrieben hat, was einige Mitschülerinnen ihm im Vorbeigehen zugeraunt hatten: »Du dürftest gar nicht existieren, du Idiot! … Was suchst du in dieser Welt? Geh sterben, geh in die Hölle!« Als ich am Ende seiner Nachricht angekommen bin, stehen auch mir Tränen in den Augen. Manchmal könnte ich laut schreien und Tag und Nacht weinen, wenn ich an die verbal Erschlagenen meiner Klassen denke.
Jeremia, der weinende Prophet, ist mir ein großes Vorbild. Selbst wenn »seine Augen Tag und Nacht von Tränen rinnen und nicht aufhören« (Jeremia 14,17), verhängen sie ihm nicht den Blick nach oben. Jeremia resigniert nicht. Er wirft sich im Tränental immer wieder zurück auf Gott als »seine Stärke und seinen Bergungsort« (Jeremia 16,19). In Gott kommt er zur Ruhe und zu neuer Kraft (Jeremia 17,7.8). Dort findet er die richtigen Worte der Ermunterung für die Niedergeschlagenen (Jeremia 29,11). Durch den Tränenschleier hindurch wird er zu einem Beter (Jeremia 32,17) für die, die nicht mehr für sich selbst beten können oder wollen. Gott erhört Jeremias Flehen. Die Tränen finden ein Ende, die Hoffnung kehrt zurück (Jeremia 31,17). Von Jeremia möchte ich lernen, mehr Augen der Liebe und Ohren der Barmherzigkeit zu haben, um für die Erschlagenen meines Volkes zu weinen und zu beten. Martin von der Mühlen