Wie oft habe ich schon sagen gehört, die Bergpredigt, aus der unser Tagesvers stammt, sei das Größte, was je an staatsmännischer Weisheit geredet wurde. Richteten sich die Menschen danach, wären alle schmerzlichen Weltprobleme gelöst und der Weg zum Paradies stünde offen. Richteten sich die Leute danach, gäbe es nur sanftmütige Friedensstifter, Gerechte und Barmherzige. Keiner würde mehr stehlen, morden, die Ehe brechen oder fromme Heuchelei betreiben. Alle würden den anderen von Herzen vergeben und am Ende durch die enge Pforte ins Himmelreich gelangen. Wenn das nichts wäre?!
Warum klappt es denn damit nicht? Die Antwort darauf ist einfach und niederschmetternd zugleich: Die Bergpredigt ist nicht für Menschen, wie wir von Natur sind, gedacht. Sie ist – man verzeihe mir den Vergleich – wie der Vorschlag an Raupen, doch einfach die Flügel auszubreiten und fortzufliegen, wenn Feinde sie bedrohen. Das hilft nicht; denn Raupen haben keine Flügel.
Genauso wenig können wir Menschen von uns aus die Forderungen der Bergpredigt erfüllen. Es muss etwas mit uns geschehen, wie bei den Raupen. Die müssen sich verpuppen, dann wird aus ihnen ein Schmetterling, und der kann fliegen.
Bei den Raupen geht das von selbst, bei uns Menschen gehört die Einsicht in diese Notwendigkeit dazu. Die bewirkt Gott oft dadurch, dass er »Fressfeinde« auf uns hetzt. Dann rufen wir um Hilfe: »Gott, sei mir Sünder gnädig!« Solchen Leuten schenkt Gott die Flügel des Glaubens. Dann kann man mit Gottes Hilfe tun, was die Bergpredigt fordert. Sonst bleibt sie rosarote Utopie.
Hermann Grabe