Seit einigen Jahren betreibt im Wiener Museumsquartier der Künstler und Archivar Julius Deutschbauer seine »Bibliothek ungelesener Bücher«. Unter einem ungelesenen Buch versteht er ein Werk, das sich jemand seit Jahren – vielleicht ein Leben lang – vorgenommen hat zu lesen, ohne dieses Vorhaben aber je in die Tat umgesetzt zu haben. Einmal in der Woche treibt sich Deutschbauer in den Wiener Kaffeehäusern, Ateliers und Bars herum, um Prominente und weniger Bekannte nach ihren ungelesenen Büchern zu befragen. Anschließend kauft Deutschbauer die ihm genannten Bände, beschriftet sie mit dem Namen des Nicht-Lesers und archiviert sie. In den letzten drei Jahren hat er so etwa 400 Bücher zusammengetragen. In seinen Regalen findet sich Karl Marx »Das Kapital« neben Werken von James Joyce oder Thomas Mann. »Manche Bücher sind gleich mehrfach vertreten, weil sie das ungelesene Buch etlicher Menschen sind.« Die Bibel zum Beispiel hat Deutschbauer bereits elfmal kaufen, beschriften und archivieren müssen.
Für den Verfasser des 119. Psalms war das Wort Gottes kein versiegeltes Schriftstück. In beinahe jedem der 162 Verse lässt er den Leser wissen, wie ihm die Lektüre der göttlichen Gebote und Gedanken Wegweisung und Hilfe war. Er kommt nicht umhin, das Lesen der ihm bekannten alttestamentlichen Schriften als »großen Gewinn« (Psalm 119,162) zu bezeichnen. Vielleicht ist dies ein guter Tag, vor unsere Regale zu treten, um die Bibel zu ergreifen, sie vom Staub der Zeit zu befreien und sie betend zu lesen. Durch sie wird Gott zu uns reden – wenn wir uns diesen Reden aussetzen. Martin von der Mühlen