»Oliver Twist«, ein Gesellschaftsroman von Charles Dickens, erzählt die Geschichte eines Findelkindes, das im Armenhaus einer englischen Kleinstadt aufwächst (Anfang 19. Jh.). Die Zustände dort sind katastrophal. In einer der zahlreichen Romanverfilmungen kommt drastisch zum Ausdruck, wie sehr die Menschen von Egoismus und Eigennutz durchdrungen sind. Die Betreiber des Armenhauses essen sich vor den Augen der hungrigen Kinder satt, die mit einer dünnen Suppe abgespeist werden, die ihnen viel zu wenig gibt, um die harte Arbeit zu schaffen. Ihre Betreuer nähren sich vom Besten, während sie es denen vorenthalten, die es viel nötiger haben.
So ähnlich stand es vor 500 Jahren um die geistliche Versorgung der Bevölkerung im »christlichen« Abendland. Die Kirche und ihre Würdenträger beanspruchten die Autorität in Glaubensfragen. Die Bibel gab es überwiegend nur in lateinischer Sprache. Dem einfachen Volk blieb der direkte Zugang zum Wort Gottes verwehrt. Stattdessen waren die Leute davon abhängig, was ihnen weitergegeben wurde. Und das reichte nicht, um daraus Kraft zu einem Gott wohlgefälligen Leben zu schöpfen.
Martin Luther jedoch hielt die Bibel für verständlich genug, dass sie von jedem selbst gehört, gelesen und verstanden wurde, sofern man sie eben in die Sprache des Volkes übersetzte. Das tat er dann, und so wurde die Bibel zur Quelle der Gotteserkenntnis und zum Maßstab für alle religiösen und sittlichen Werte. Dazu wurden Schulen eingerichtet, damit jeder selbst fähig sein sollte, Gottes Wort zu lesen und sich daran zu orientieren. Die entscheidende Autorität hatte fortan nicht mehr die Kirche, sondern allein die Schrift, also die Bibel.
Joachim Pletsch