Frühjahr 1974. Ein Bild geht durch die Presse: Im Vordergrund und in Großaufnahme Bundeskanzler Willy Brandt, an einem Tisch sitzend, leicht zurückgelehnt und mit etwas erhobenem Kinn. Konzentriert hört er einem Mann zu, der hinter ihm steht und seinen Mund ganz nah an das Ohr des Kanzlers gebracht hat. Niemand soll hören, was er dem Kanzler mitzuteilen hat.
Es sind Geheimnisse. Das Gesicht des Flüsterers ist eigentlich ein Dutzendgesicht, etwas kantiger Schädel und randlose Brille, völlig unauffällig. Aber es ist ein wichtiger Mann, nur wenige kommen an ihm vorbei, wenn sie den Kanzler sprechen wollen. Es ist Günther Guillaume, der persönliche Referent Willy Brandts. Er wurde am 24. April 1974 verhaftet. Ermittlungen hatten Hinweise ergeben, und der Verfassungsschutz konnte diesen Mann als Spion der DDR entlarven. Für Willy Brandt bedeutete die »Affäre Guillaume«, dass seine Tage als Bundeskanzler gezählt waren.
Was aber mag Willy Brandt gedacht haben? Diesem Mann hatte er über Jahre sein Vertrauen geschenkt. Die Erkenntnis, im Allergeheimsten und Allerpersönlichsten verraten worden zu sein, macht Verrat so unvergesslich und bitter. Im obigen Bibelvers kommt das Entsetzen darüber anschaulich zum Ausdruck. Zu allen Zeiten haben Menschen solche Erfahrungen gemacht. Deswegen gibt es auch mehr Misstrauen unter den Menschen als Vertrauen, und weil die Welt voller Misstrauen ist, gibt es auch so viel Elend. Das weiß auch Gott. Er geht den Menschen deshalb mit großer Geduld nach und fordert uns auf: Vertraut mir, ich werde euch nicht enttäuschen. Ich habe sogar meinen Sohn ans Kreuz gegeben. Deutlicher kann ich doch nicht mehr machen, dass ich es ernst meine. Karl-Otto Herhaus