Sie kennen Frau Unruh nicht? Dann freuen Sie sich! Sie ist gerade Neunzig geworden und eigentlich nur noch ein menschliches Wrack. Aber wehe: von Alter, Krankheit oder Tod darf man in ihrer Gegenwart nicht sprechen. Dann wird sie richtig lebhaft und aggressiv, um nicht zu sagen »unruhig«. Sie macht ihrem Namen alle Ehre. Fast alles weiß sie und vor allem immer besser. Handwerker und andere Leute hat sie nur einmal und dann nie wieder im Haus, denn niemand macht es ihr recht. Sie rechnet alles haargenau auf Heller und Pfennig ab und »Trinkgeld« ist ein Fremdwort für sie. Als Frau, die genau weiß, was sie will und was nicht, lässt sie sich nichts sagen und nimmt keine Ratschläge an, weil sie diese als »Schläge« empfindet. Nachbarn und jeder, der sie kennt, weiß, dass sie eine sehr eigenwillige Frau und ein unendlich einsamer Mensch ist, der einem Leid tun kann.
Wir kennen sie nun schon über dreizehn Jahre und besuchen sie noch immer, was verständlicherweise nur noch wenige tun. Besonders meine liebe Frau kann ein Lied von dieser schwierigen Person singen. Aber mit Gottes Hilfe lernt man auch die wunderlichsten Menschen zu akzeptieren, ja sogar ein bisschen liebzuhaben. Vielleicht gibt es auch in Ihrem Bekanntenkreis eine Frau oder einen Herrn »Unruh«?
Wichtig ist, dass wir selbst in einen Spiegel schauen und heilsam erschrecken; und alles dafür tun und Gott bitten, dass wir nicht werden wie »Frau Unruh«. Denn Verbitterung ist ein ganz, ganz bitteres Los. Sowohl für alle anderen als auch für das eigene Herz. Karl-Heinz Gries